Punk – Eine gefährliche Utopie

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Eine aktualisierende Rückschau auf die Beziehung zwischen Punk und Anarchismus

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Wie ist Punk aus den Gegenkulturen der 1960er Jahre hervorgegangen, die er angeblich ablehnte? Warum spielt Punk Ende des 20. Jahrhunderts eine so zentrale Rolle beim Wiederaufleben des Anarchismus auf der ganzen Welt? Wie hat Punk die partizipativen Medien des digitalen Zeitalters vorweggenommen? Und was kann uns Punk und sein Erbe heute lehren?

Der folgende Text ist eine Übersetzung des Vorworts zu Smash The System! Punk Anarchism as a Culture of Resistance, einem neuen Buch, das von Active Distribution auf Englisch veröffentlicht wird. Ihr könnt es hier bestellen. Ihr könnt fast alle Punk- und Hardcore-Platten die CrimethInc. im Laufe der Jahre veröffentlicht hat hier kostenlos herunterladen.


“PUNKROCK IST GLEICH ANARCHIE PLUS GITARREN UND DRUMS. ALLES ANDERE IST UNTERWERFUNG.”

-Italienischer Punk


Punk: Eine gefährliche Utopie

Stellen wir uns das ideale kulturelle Medium für den Anarchismus vor.

Es muss trotzig und widerständig sein, logisch. Es sollte sowohl fröhliche Ironie als auch großen Mut enthalten. Aber es sollte im Kern positiv sein, selbst wenn wir den langen Weg durch Leid und Katharsis gehen müssen um dorthin zu kommen. Wir wollen keinen Nihilismus von der Art die es schwer macht morgens aus dem Bett zu kommen – wir wollen die Art Nihilismus die die Leute die ganze Nacht auf den Beinen hält, Nihilismus der Unruhe stiftet.

Den Anfang machen wir bei der Kunst: Musik, Mode, Design, Graffiti, Schreiben, Fotografie, Kleinkriminalität. Diese Kunstfelder sind alle grundsätzlich positiv, auch wenn sie Wut und Verzweiflung ausdrücken, und außerdem sind die Einstiegskosten ziemlich gering. Stellen wir die Musik in den Vordergrund, damit die Belesenheit nicht zum Hindernis wird.

Ästhetisch sollte es roh sein, und irritierend. Werft alle Ansprüche auf Fachwissen über Bord; fegt die Klassiker vom Tisch. Ein paar Kniffe können wir allerdings behalten, jene die den Arbeiter*innen der Musikindustrie gestohlen wurden. Plagt die Bequemen, pflegt die Geplagten.

In wirtschaftlicher Hinsicht sollten wir, wenn wir schon keinen einseitigen Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise vollziehen können, doch einige Maßstäbe implementieren, die ihren Auswirkungen etwas entgegensetzen: Preiskontrollen (“zahl nicht mehr als zwei Tacken”), Ablehnung vor Profitgier und allem kommerziellen, eine Ethik des Do-it-Yourself. Lasst uns den Schwerpunkt auf die Dinge legen die nicht käuflich sind. Und wenn das einen erbitterten Diskurs über “Authentizität” bedeutet, dann nehmen wir das in Kauf.

Dieses kulturelle Medium, diese unsere Subkultur muss integrativ sein – und zwar nicht nur im oberflächlichen Sinne von liberaler Repräsentationspolitik. Sie sollte nicht nur zu den Bekehrten predigen, sondern Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen politischen Richtungen ansprechen und miteinbeziehen. Wir wollen dieselben jungen Leute erreichen die das Militär versucht anzuwerben, und wir wollen sie zuerst erreichen. Sicherlich wird das bedeuten, dass wir mit vielen Menschen zusammenkommen die keine Anarchist*innen sind – es wird einen großen, unordentlichen Brei voll verschiedener Politiken und Konflikte und Widersprüche geben – aber das Ziel ist es den Anarchismus zu verbreiten, nicht sich dahinter zu verstecken. Bringt alle in einem Raum zusammen der auf Horizontalität, Dezentralisierung, Selbstbestimmung, reproduzierbaren Modellen, Unregierbarkeit und so weiter basiert, und lasst sie die Vorteile dessen von selbst entdecken.

Das Wichtigste ist die Beteiligung derjenigen, die arm, unstet und wütend sind. Nicht etwa aus falsch verstandener Nächstenliebe, sondern weil die sogenannten gefährlichen Klassen in der Regel die treibende Kraft des Wandels von unten sind. Den Selbstzufriedenen und Wohlhabenden fehlt es an Risikobereitschaft, die aber notwendig ist um Geschichte zu schreiben und Kultur neu zu erfinden.

Stellt euch eine Gesellschaft vor, die sich selbst unterrichtet, ohne Lehrer*innen, Ränge oder Unterrichtspläne. Teenager bringen sich selbst das Schlagzeugspielen bei, indem sie anderen Teenagern beim Spielen zusehen. Sie werden nicht aus verstaubten Büchern Politik lernen, sondern indem sie Zines über ihre eigenen Erfahrungen veröffentlichen und mit Menschen auf der anderen Seite des Planeten korrespondieren. Bei jedem Auftritt bekannter Musiker*innen, werden auch welche auftreten die gerade erst anfangen zu spielen. Lernen wäre kein gesonderter Tätigkeitsbereich, sondern ein organischer Bestandteil jedes Aspekts der Gemeinschaft.

Dadaismus und Surrealismus waren in Ordnung, aber “Poesie muss von allen geschrieben werden, nicht von einem”, wie Comte de Lautréamont es ausdrückte. Unsere ideale Subkultur ist kein Künstler*innenklüngel, sondern eher ein Netzwerk von Banden und Gangs aus der unteren Klasse, in dem jede*r eine Band, ein Zine oder zumindest ein Vorstrafenregister hat. Kunst ist nicht nur was auf den Bühnen passiert – es sind die Designs die Leute auf ihre Jacken, ihre Hemden und ihre Körper schreiben, das Tanzen und das Küssen, das Kämpfen und der Vandalismus, die Atmosphäre, die gemeinsam geschaffen wird. Der kollektive Mythos einer weltweiten Graswurzelbewegung. Lasst diesen Mythos ruhig umkämpftes Territorium sein – der Konflikt wird die Menschen bei der Stange halten.

Unsere Subkultur wird Dionysisch sein – sinnlich, spontan, wild – ein unkontrollierbarer Springquell der rohen Gefühle. Das Apollinische (das Rationale, das Absichtliche, das Geordnete) wird der chaotischen Energie folgen, die diese Bewegung antreibt, aber ihr nicht zuvorkommen. Intellektuelle Vorschläge können vielleicht auf Adrenalin, Lust, Gewalt und Vergnügen aufbauen, aber sie können kein Ersatz dafür sein.

Also nichts Scheinheiliges, nichts Siegessicheres oder Moralisierendes. Lieber eine düstere Romantik, die sowohl in der Niederlage als auch im Sieg Würde sieht, eine bescheidene Haltung, die sagt: “Nichts Menschliches ist mir fremd.”

Diese Subkultur sollte ein Raum sein in dem Menschen etwas über Konsens lernen und ihre Grenzen gegenüber übergriffigen Autoritätspersonen, besitzergreifenden Männern und anderen Plagen behaupten können. Gleichzeitig soll sich in ihr ein rebellisches Gefühl von Zusammenhalt verbreiten, dass die physischen und emotionalen Grenzen untergräbt, die das kapitalistische Subjekt individualisieren. “Unsere Utopie ist nicht eine Welt, in der dich niemand anrempelt – es ist eine Welt, in der alle zusammenstoßen, kollidieren, und in der das etwas lustiges und gutes ist, eine Welt in der es etwas anderes bedeutet, wenn Menschen einander anrempeln.”

Keine anonyme Utopie in der nicht gekämpft wird, sondern eine gefährliche Utopie, in der es Dinge gibt für die sich zu kämpfen lohnt. Kein Potemkinsches Dorf, das die Verwerfungen und Unterschiede in der Gesellschaft kaschiert, sondern Austragungsort dieser Konflikte, wo mensch Stellung beziehen kann, und die Ermessensgrundlage ist das eigene Leben. Nicht das anarchistische Äquivalent der Roten Pioniere – mit einer tattrigen Führung und langweiligen Traditionen –, sondern ein offener Raum voll Freiheit, in dem jede Generation ihre eigenen Fehler macht und ihren eigenen Weg geht.

Von diesem Ausgangspunkt können wir uns auf umfassende alternative Lebensweisen besinnen: selbstorganisierte Treffpunkte und Infoläden, kollektives Wohnen, Hausbesetzungen, Food not Bombs / KÜcheFürAlle, Lesegruppen, Bezugsgruppen, Feminismus, Veganismus, Non-Monogamie, Umwelt-Verteidigung, Arbeitsverweigerung – sky is the limit. Ein weltweites Netzwerk von gegen-kulturellen Räumen, Bewegungen und Lebensstilen. Eine Kettenreaktion von Rebellionen, die wie eine Kette aus Feuerwerkskörpern rund um die Erde aufflammt und sich fortsetzt.

Erst jetzt im Nachhinein können wir begreifen, wie viel Glück wir hatten an einer der größten gegen-kulturellen populären Kunst- und Massenbewegungen der letzten hundert Jahre teilzuhaben.

Eine Band, die im Espaço Cultural Semente Negra, dem Black Seed Cultural Center, in Peruíbe, Brasilien, auftritt.


Gewerkschaften, Hippies, Punks, Millenials

“Wenn es irgendeine Hoffnung für Amerika gibt, dann liegt sie in einer Revolution, und wenn es eine Hoffnung für eine Revolution in Amerika gibt, dann liegt sie darin, Elvis Presley dazu zu bringen Che Guevara zu werden.”

-Phil Ochs

“Punks sind Hippies.”

-GISM

Kommen wir nun zu den historischen Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur Geburtsstunde eben jener Gegenkultur.

Die mächtigen und widerständigen Arbeiter*innenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts waren korrumpiert worden, und hatten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung im Austausch für höhere Löhne, billigere Konsumgüter und mehr Arbeitsplatzsicherheit aufgegeben – der so genannte fordistische Klassenompromiss; während im Ostblock das gleiche passierte, nur im Namen des “Sozialismus”. Auf diese Weise in die Selbstregulierung des Marktes integriert, wurde die Gewerkschaftsbürokratie langsam verdrängt und in die Unternehmen outgesourced, während der Kapitalismus die gesamte Erde in eine einzige integrierte Lieferkette verwandelte.

Stalinismus, Faschismus, der Zweite Weltkrieg, zwei “Red Scares” und der Kalte Krieg hatten die anarchistischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zerschlagen und den größten Teil der Menschheit in einem Dualismus von falscher Freiheit und falscher Gleichheit auf die eine oder auf die andere Seite gestellt, es blieb die Auswahl zwischen der CIA und dem KGB. Wer nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde wuchs auf, ohne dass der Horizont der Utopien und sozialen Veränderungen über das Bestreben hinausgegangen wäre, die eine oder andere Seite dieser Dichotomie zu reformieren.

Gleichzeitig hatten die Babyboomer dank des Fordismus Zugang zu einer breiteren Palette von Gütern als jede Generation zuvor. Die Werbung ermutigte die Jugendlichen dazu sich als eigene Gruppe mit eigenen Interessen und Bestrebungen zu verstehen. Diese massenproduzierte Jugendkultur schuf unbeabsichtigt die Möglichkeit zu einer massenhaften Ablehnung der Mainstream-Kultur, indem sie neue gemeinsame Bezugspunkte schuf, durch die sich ältere nationale, kulturelle und soziale Spaltungen überwinden ließen.

Ursprünglich war die Rockmusik eine Kunstform der Arbeiter*innenklasse, die aus Schwarzen Communitys in den Vereinigten Staaten hervorging. Und sie war eine der Waren, die Kapitalist*innen für den Massenmarkt zu kultivieren begannen. In diesem Zusammenhang stand der Erfolg der Beatles symbolisch für den Traum von wirtschaftlichem Aufstieg den jede*r verwirklichen kann. Aber er war auch ein unvollständiger Versuch der Kulturindustrie, sich die Rebellion der Arbeiter*innenjugend anzueignen und sie zu zähmen. Die Tatsache, dass vier gewöhnliche Proletarier aus Liverpool, die über die Aufnahmetechnik und die Aufmerksamkeit einer ganzen Zivilisation verfügten, den ganzen Weg von “Love Me Do” im Jahr 1962 bis zur Aufnahme der LP “Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band” 1967 gehen konnten, implizierte eine utopische Möglichkeit, die alles übertraf, was der Markt jemals erfüllen konnte: Wenn wir alle solche Möglichkeiten haben, könnten dann nicht wir alle Künstler*innen sein? Wie die Generation die mit der Musik der Beatles aufgewachsen war, entdeckten auch die Jungs aus Liverpool, dass sie mit den Möglichkeiten die ihnen zur Verfügung standen, selbst an der Spitze der Pyramide, nicht zufrieden waren – und die sozialen Körperschaften, die sich durch gemeinsame Konsumaktivitäten zusammengefunden hatten, rebellierten gegen die Konformität und Entfremdung der Massengesellschaft.

In seinem Buch Do It! schreibt der Erz-Yippie Jerry Rubin die Unruhen der 1960er Jahre dieser Entwicklung zu: “Die Neue Linke entsprang, ein von Geburt an verärgertes Kind, aus dem kreisenden Becken von Elvis.” Die Generation, die anfangs gegen die sexuelle Unterdrückung ihrer Eltern rebellierte indem sie Rock and Roll hörte, besetzte schließlich Universitäten und protestierte auf der Straße. Zur Zeit des Woodstock-Festivals im August 1969 war diese Gegenkultur millionenstark.

Ein Proto-Punk-Flyer von Up Against the Wall Motherfucker.

Trotz des antiautoritären Geistes der Gegenkultur war das Wiederaufleben des eigentlichen Anarchismus begrenzt. Anarchist*innen waren in der Kampagne für nukleare Abrüstung in Großbritannien präsent und stellten eine einflussreiche Minderheit innerhalb der Students for a Democratic Society in den Vereinigten Staaten dar. Up Against the Wall Motherfucker, die “Straßengang mit einer Analyse”, übersetzte das spanische anarchistische Konzept der grupos de afinidad in das anglophone Modell der affinity groups [auf Deutsch “Bezugsgruppen”]; so gerüstet stürmten sie das Pentagon, durchtrennten die Zäune in Woodstock und brachten ihren Mimeographen (mechanische Kopiermaschine) mit, als sie Bill Grahams Rockmusiklokal besetzten, um eine freie Nacht für Alle zu fordern. Doch im Laufe des Jahrzehnts gewannen autoritäre Marxist*innen Machtkämpfe innerhalb der Führung vieler Bewegungen. Wie Marx Putsch innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation ein Jahrhundert zuvor, trugen diese Pyrrhussiege zum Zusammenbrechen der Bewegungen selbst bei.

Auch innerhalb der Gegenkultur hielt das Star-Prinzip mit seinen Hierarchien Einzug. In Woodstock verfolgte eine halbe Million Menschen aus dem Schlamm heraus wie eine Reihe von Berühmtheiten die Bühne betraten.

In der Zwischenzeit hatten die Kapitalist*innen begonnen die Forderungen der Hippies nach Individualität und Vielfalt in den Markt zu integrieren. Dies fiel zusammen mit dem Übergang von der reinen fordistischen Massenproduktion zu immer vielfältigeren Konsumgütern und -Identitäten – dem Übergang von Skaleneffekt zu Verbundeffekt. Wenn die Beatlemania ein Beispiel für die Massenkultur war, so war das Aufkommen von Metal, Punk und Hip-Hop in den 1970er Jahren ein Beispiel für die “post-fordistische” Verbreitung von Subkulturen.

Im Sommer 1976 – hundert Jahre nach dem Tod von Michail Bakunin, vierzehn Jahre nach der Aufnahme von “Love Me Do” und sieben Jahre nach dem Woodstock-Festival – traten die Sex Pistols zum ersten Mal im Fernsehen auf und spielten “Anarchy in the UK”, den Song, der ihre erste Single wurde. “Bakunin hätte es geliebt”, witzelte der Moderator, als sie fertig waren.

Der erste Fernsehauftritt der Sex Pistols mit dem Lied “Anarchy in the UK” in der Sendung So It Goes am 28. August 1976. “Bakunin hätte es geliebt”, witzelte Moderator Tony Wilson.

Hier ist er, bei der öffentlichen Premiere von rohem, ungefiltertem, echten Punk: der Beweis für seine anarchistischen Qualitäten. Alle Versuche Punk zu verwässern kamen danach.

Also ja, Punk war eine Reaktion auf die Gegenkulturen der 1960er Jahre. Pistols-Sänger Johnny Rotten eröffnete den Fernsehauftritt mit einem spöttischen Satz über Woodstock, in dem er alles Selbstgefällige und Naive an der Hippie-Ära ablehnte – alle Aspekte der Hippiekultur in denen die Hippies sich hatten anpassen und neutralisieren lassen.

Aber Punk war auch eine Fortsetzung dieser Jugendkultur. Er folgte demselben Radikalisierungsprozess den die Generation von Jerry Rubin erlebt hatte – nur verstärkt, wie eine Bakterie, die gegen Antibiotika immun geworden war. Von Anfang an gaben sich die Punks große Mühe, sich von den Hippies abzugrenzen; im Nachhinein betrachtet war Punk alles, was sich nicht domestizieren und kommerzialisieren ließ. Nicht Festivalbühnen, sondern Keller-Shows; nicht Krawatten und Peace-Zeichen, sondern Lederjacken und Straßenkämpfe à la Up Against the Wall Motherfucker. Was ist schließlich eine Punkband anderes als eine Bezugsgruppe mit Gitarren? Im Gespräch mit den Sex Pistols bemerkte John Lennon, dass die Pistols absichtlich all die Dinge taten, die das Management der Beatles ihnen zu Beginn ihrer kommerziellen Karriere verboten hatte.

Ein Jahr, nachdem die Pistols mit “Anarchy in the UK” debütierten, startete CRASS (eine der ersten Punkbands die wiederholte Male als “Anarcho-Punk” bezeichnet wurde) in einem kollektiven Wohnprojekt, das die Mitglieder Penny Rimbaud und Gee Vaucher 1967 gegründet hatten. Wir können den Stammbaum des Punk über CRASS direkt zu den Hippies zurückverfolgen, einschließlich des Pazifismus, den die nächste Generation von Punks dann abschüttelte.

Als Teil des post-fordistischen Wandels wurden Musikverlag und Drucktechnik endlich für die breite Öffentlichkeit zugänglich. CRASS gehörte zu einer neuen Welle von Do-it-yourself-Punkbands, die ihre Platten selbst veröffentlichten. (Es wird erzählt, dass sie 5000 Exemplare ihrer Debüt-LP drucken lassen mussten, weil das die Mindestauflage war, die ein Presswerk damals produzieren konnte.) Indem sie den Produktionsprozess selbst in die Hand nahmen anstatt sich an ein Label zu verkaufen, konnten sie die Mystik, die jahrzehntelange kapitalistische Investitionen und Werbung der Rockindustrie verliehen hatten für sich beanspruchen, und sie für die Art von autonomen Jugendsubkulturen zurückgewinnen, die den Rock’n’Roll ursprünglich hervorgebracht hatten.

CRASS.

Zur gleichen Zeit untergruben die unbeständigen globalisierten Märkte die Arbeitsplatzsicherheit zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Um 1977 waren die Kinder der entlassenen Arbeiter*innen empfänglich für die Signale die im Text des nächsten Sex Pistols Hits widerhallten: “No future”. Punk machte sich zu einer Zeit unter den Vorgänger*innen der überflüssigen Arbeitskräfte unserer Tage breit, als diese Zukunftslosen noch eine verbitterte, isolierte Minderheit waren. Er war das Lied des Kanarienvogels in der Kohlenmine.

Aber es dauerte Jahrzehnte, bis der Fordismus vollständig zusammenbrach, und zusammen mit den selbstgefälligen Massen die er hervorgebracht hatte verschwand. Erst 2007 konnte das Unsichtbare Komitee in Der kommende Aufstand *, schreiben

»Die Zukunft hat keine Zukunft mehr« ist die Weisheit jener Epoche, die unter dem Anschein einer extremen Normalität auf der Bewusstseinsebene der ersten Punks angelangt ist.

Heute, in einer Zeit weit verbreiteter Wirtschaft- und Umweltkrisen, Pandemien und Kriege – in der praktisch niemand mehr mit einer rosigen Zukunft rechnet – ist Punk überflüssig geworden. Zumindest als marginale Ablehnung des kapitalistischen Optimismus und seiner Ästhetik. Wenn wir Punk nicht in den richtigen historischen Kontext setzen – als Neuerfindung bereits bestehender Formen des Widerstands; als Reaktion auf bestimmte Bedingungen –, werden wir weder seine Stärken sehen, noch verstehen wo Punk an seine Grenzen stößt oder welche das genau sind. In Anbetracht der Veränderungen, die sich auf dem Arbeitsmarkt und in der Konsumidentität vollzogen, ist es nicht überraschend, dass ab den 1980er Jahren selbst die doktrinärsten Anarchosyndikalist*innen zunächst eher durch Punkmusik als durch Organisierung am Arbeitsplatz politisiert wurden. Um zu verstehen warum Punk zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Stelle trat, müssen wir erkennen, wie Punk die Online-Netzwerke, partizipatorischen Modelle und flüchtigen Identitäten des digitalen Zeitalters vorwegnahm und dann von ihnen verdrängt wurde.

Nausea bei einem Auftritt am Tompkins Square. Foto von Chris Boarts von Slug & Lettuce.

Von den 1970er Jahren bis zur Jahrtausendwende war fast jede*r der*die zur Konfrontation neigte, praktisch in einer bestimmten Subkultur unter Quarantäne gestellt. Doch mit dem Übergang von Skaleneffekt zu Verbundeffekt sind diese Subkulturen sind keine eigenständigen, langfristigen Zusammenschlüsse mehr. Heute horten die Menschen ihre Konsumidentitäten wie Sammelkarten, und viele subkulturelle Identitäten bleiben nicht länger bestehen, als es dauert, ein Meme in Umlauf zu bringen. Es ist ebenso schwierig geworden die Rebellion in bestimmten sozialen Gruppen zu isolieren, wie es schwieriger geworden ist, ein kohärentes revolutionäres Subjekt zu konstituieren.

Jene auf Do-it-yourself-Netzwerken basierende Underground-Ökonomie war ein Vorläufer des heutigen Hyperkapitalismus, in dem sich die Selbstverwaltung unserer Marktfähigkeit auf jeden Aspekt unseres sozialen Lebens und unserer Freizeit erstreckt. CRASS und ihre Zeitgenoss*innen erzielten einen Durchbruch, indem sie Formate nutzten, die zuvor für die Arbeiter*innenklasse unzugänglich waren, um subversive Botschaften zu verbreiten. Aber in diesem Prozess leisteten sie unwissentlich Pionierarbeit und bestätigten eine neue Form des Unternehmer*innentums und ebneten den Weg für weniger politisierte Entrepreneure. Alle Unzulänglichkeiten, die die Punks in den einseitig ausgerichteten kapitalistischen Medien des späten 20. Jahrhunderts ausmachten (“Kill your television!”), finden sich in den partizipativen kapitalistischen Medien unserer Tage wieder. Wer braucht schon zur Bandprobe zu gehen, wenn mensch mit seinem Smartphone ein Video machen und es sofort auf Tik Tok posten kann? Do it yourself!

Natürlich haben die Plattformen der sozialen Medien die neue Generation kaum gezähmt. Die heutigen Aufstände setzen den Prozess der Assimilation und Neuerfindung fort und greifen auf alle Aspekte von Punk zurück, die nicht domestiziert, kommerzialisiert oder unterwandert werden konnten. Unruhen ohne Punk-Shows; schwarze Pullis ohne Aufnäher, damit die Polizei einen nicht identifizieren kann; Widerstand und Rebellion ohne Hymnen, ohne Ästhetik, ohne Hoffnung.

Wenn überhaupt, dann haben wir die Überbleibsel der Hippie-Ära, die in der ersten Phase des Punk fortbestanden über-kompensiert. Als die Pistols aufkamen, reagierten sie auf eine Subkultur die zu viel Kunst und nicht genug Rebellion, zu viel Unterhaltung und nicht genug Unruhe, zu viel Optimismus und nicht genug Realität beinhaltete. Und während wir uns immer tiefer in ein Jahrhundert hinein bewegen das bereits von Zerstörung und Verzweiflung geprägt ist, könnten wir nun etwas mehr Kunst, Kreativität und Optimismus gebrauchen.

Das ist einer der vielen Gründe, warum Punk auch im Jahr 2022 noch relevant ist.

Heutzutage vermissen wir in der anarchistischen Bewegung manchmal den dionysischen Spirit, der den Hardcore-Underground zu seiner Hochzeit kennzeichnete: die gemeinsame gestaltgewordene Erfahrung einer gefährlichen Freiheit. So kann Punk uns in unseren heutigen und zukünftigen anarchistischen Experimenten inspirieren: als ein transformatives Ventil für unsere Wut, unser Leid und unsere Freude, ein positives Beispiel für Gemeinschaft und Selbstbestimmung in unseren sozialen Beziehungen, ein Beispiel dafür, dass ein destruktives Verlangen auch kreativ sein kann – und umgekehrt.

-“Music as a Weapon: The Contentious Symbiosis of Punk Rock and Anarchism”, auf deutsch in Writings on the Wall erschienen.


Die Geschichte ist nicht fein säuberlich in Epochen eingeteilt, sondern gleicht mehr einer Reihe von Ablagerungen und Sedimentschichten, aus denen sich dann die Gegenwart zusammensetzt. Heute Abend, während ihr dies lest, spielt ein Sinfonieorchester in den schicken Vierteln, eine Jazzband in der Innenstadt und eine Punkband in den Vororten.

Punk’s not dead, I know—Punk’s not dead, I know it’s not.

Wenn wir Punk als Erbe langjähriger Widerstandstraditionen verstehen, erklärt dies seine anhaltende Bedeutung für den Anarchismus. Während eine ältere Generation gewerkschaftsorientierter Radikaler das politische Engagement der Punks als flüchtig verspottete, ist Punk viel älter – und stabiler – als die heutigen politischen Organisationsmodelle; er stammt aus einer Zeit, in der Subkulturen noch dauerhafte Identifikation und Verpflichtungen hervorgebracht haben. Kein Wunder, dass viele derjenigen, die die Infrastruktur anarchistischer Organisierung von einem Jahr zum nächsten aufrechterhalten, langjährige Punks sind. Punk verbindet den einnehmenden Agitprop und die globalen Netzwerke der kulturellen Bewegungen des 21. Jahrhunderts mit der Langlebigkeit der politischen Formationen vor dem Internet.

Punk-inspirierte Anarchist*innen bei der Maidemonstration in Bandung, 2019. Foto von Frans Ari Prasetyo.


Coda: Augenzeugenbericht

Die Punkband meines Freundes spielt in der rückständigen kleinen Südstaatenstadt neben meiner. Der Veranstaltungsort ist ein Atombunker aus dem Kalten Krieg. Er heißt “The Fallout Shelter”. (deutsch: “Der Atombunker”)

Ein Polizeiauto hält vor dem Lokal und ein Beamter steigt aus. Während der Beamte die Punks auf dem Bürgersteig bedrängt, schlüpft mein Freund über die Straße. Er geht auf Ellbogen und Knie, krabbelt hinter das Polizeiauto und schlitzt mit seinem Taschenmesser einen Reifen auf.

Der Polizist muss über Funk Verstärkung anfordern. Den ganzen Abend lang, zwischen den Auftritten der Bands, trinken die Punks auf dem Bürgersteig und applaudieren ironisch, während die Polizei sich bemüht, den Reifen zu wechseln.


In der ersten Woche der High School spielt Seven Seconds in dem einzigen Club in meiner kleinen Stadt. Die Show endet so wie jede große Hardcore-Show dort endet – mit einer massiven Skinhead-Schlägerei, die sich auf die Hauptstraße ausweitet.

Am nächsten Morgen betrete ich das Klassenzimmer mit einem blauen Fleck in der exakten Form eines Doc-Martens-Stiefelabdrucks auf meinem Arm. Dieser Blaue Fleck ist ein Zeichen: Ich gehöre nicht zu euch und eurer Welt.


In den folgenden zehn Jahren trete ich einer Band bei, starte ein Zine, führe endlose Debatten über Tanz, Mode, Essen und Auseinandersetzungen. Ich freunde mich mit den Leuten an die in dem Kopierladen die Straße runter Nachtschicht haben. Ich bleibe die ganze Nacht auf und fotokopiere dort Zines, strickt ohne das Kassenbuch miteinzubeziehen. Jemand in der Tschechischen Republik schickt mir eine Kopie der Kritická Situace LP im Tausch gegen mein Zine. Ich bringe die LP zur Hörstation in der Stadtbibliothek, weil ich keinen Plattenspieler habe. Ich fahre zwölf Stunden, um ein Konzert zu spielen, das von Schlägern besucht wird die versprochen haben mich sofort anzugreifen wenn sie mich sehen. Ich organisiere Auftritte für Bands. Ich bringe Platten heraus.

Unsere Band geht auf Tournee. Nacht für Nacht werden wir von Leuten aufgenommen und manchmal sogar verpflegt. Wir kaufen uns gemeinsam einen Van. Wir reisen durch das Land, spielen auf selbstorganisierten Veranstaltungen und übernachten in Hausprojekten. In Übersee sehen wir unsere ersten riesigen besetzten Häuser, mit Bannern an den Wänden, Bibliotheken mit Archiven der Bewegungen, und Fahrradwerkstätten im Viertel. Langsam dämmert uns, dass wir Teil von etwas viel Größerem sind als wir dachten.

Erst nach drei Monaten auf Tour stelle ich fest, dass ich dazu übergegangen bin nicht mehr in der ersten Person Singular, sondern in der ersten Person Plural zu denken. Wir.


Wir treffen die alten Hasen der Crass-Generation. Sie sind alle ein paar Jahrzehnte älter als wir; wir sind die Jüngsten bei allen Shows in Großbritannien. Ein Mitglied von Doom fährt uns in seinem Van über die britischen Inseln, weil wir es nicht gewohnt sind auf der linken Seite der Straße zu fahren.

Eines Nachts bleibt der Kerl von Doom lange auf und redet die ganze Nacht mit einem Mitglied der Subhumans. Am Ende streiten sie darüber, ob The Clash Punk ruiniert haben, weil sie sich an eine Plattenfirma verkauft haben. Ich habe den Eindruck, dass sie seit zwanzig Jahren den gleichen Streit haben. Trotzdem hilft es mir, meine eigenen Bemühungen und Verpflichtungen in einem größeren Zeitlichen Rahmen zu sehen


Reclaim the Streets – Millionen für Mumia – die Nationale Konferenz für organisierten Widerstand – die Amtseinführung des Präsidenten. Während jeder Konferenz, vor oder nach jedem Protest, gibt es eine Punk-Show. Nicht nur Bandauftritte, sondern auch Puppentheater, Performance-Kunst, radikales Cheerleading. Umherziehende Punks stellen Literaturtische auf, die ausschließlich aus Noam Chomsky-Büchern bestehen, die sie aus Barnes & Noble-Buchläden gestohlen haben. Manchmal bricht der schwarze Block direkt aus dem Moshpit auf.


In Sâo Paulo nehme ich an einer Demonstration gegen ein Denkmal in Ehren von 500 Jahren Kolonialismus teil. Alle sind vermummt. Die Punks hinter uns werfen Farbbomben auf das Denkmal und Steine auf die Reihen der Bereitschaftspolizei vor uns. Die Polizei schießt mit scharfer Munition über unsere Köpfe. Danach verstecken wir uns in einem Açai-Stand, damit die Bullen uns nicht angehen wegen der Farbe auf unseren Klamotten.

Ein paar Tage später spielt Abuso Sonoro in Guarujá. Der Gitarrist trägt dieselbe Maske die er bei der Demonstration an hatte. Eine weltweite Kultur des Widerstands.


Als wir das erste Mal am Ungdomshuset, dem besetzten Punk-Treffpunkt in Kopenhagen, vorfahren, sind alle Fenster im Viertel vernagelt. In der Nacht zuvor gab es hier Unruhen, erklären unsere Gastgeber*innen, weil die Polizei einen Mann in die Türkei abschieben will. Nach der Show, während wir im Gästezimmer schlafen, sitzt die Polizei in einem gepanzerten Auto vor dem Gebäude und bedroht die Punks die auf dem Dach Wache stehen per Lautsprecher.

Als wir zum vierten Mal das Ungdomshuset besuchen, sind wir zu viele um im Gästezimmer zu schlafen. Stattdessen breiten unsere Gastgeber*innen Turnmatten über die gesamte Länge der großen Halle aus. Wir rollen unsere Schlafsäcke aus und legen uns in einer Reihe hin, dreißig oder mehr – die Bands, die Organisatoren und jeder x-beliebige Reisende, der keinen anderen Platz zum Schlafen hat – zusammen unter der gewölbten Decke des Gebäudes, in dem 1910 der Internationale Frauentag ausgerufen wurde. Die Erde soll eine gemeinsame Schatzkammer für alle sein. Bevor ich einschlafe, wende ich mich an die Person, die links von mir ihr Nachtlager aufgeschlagen hat. “Woher kommst du?”

“Me? I’m from Australia,” antwortet sie. “Where are you from?”

Ein Jahr später stürmt die Polizei das Gebäude und reißt es in der größten Aktion in Dänemark seit dem Zweiten Weltkrieg ab. Die Stadt ist eine Woche lang in Aufruhr; ein Jahr lang finden wöchentlich Demonstrationen statt. Tausende von Menschen planen gerade, das Rathaus gewaltsam zu besetzen, als die Regierung einlenkt und den Besetzer*innen ein neues Gebäude zugesteht. Das nächste Mal spielen wir dort, im neuen Ungdomshuset.

Ungdomshuset.


Jahre später, während der Occupy-Bewegung, strömt eine neue Generation in die anarchistische Gemeinschaft in unserer kleinen Südstadt. Sie sind die ersten, die ankommen ohne Punk als Bezugspunkt.

“Aber du musst auch einen Workshop über Punk machen!”, sagt Liz zu mir, nach einem Direct Action Training.

“Ein Workshop? Wozu? Punk ist nur ein Musikstil, er ist für diese Sache nicht wesentlich”, antworte ich. Jahrzehntelange Diskussionen über subkulturelle Vereinzelung haben mich bei diesem Thema ein wenig empfindlich gemacht.

“Vielleicht, aber für alle, die sich schon vorher kannten, ist Punk wie eine Studentenverbindung, in der man war, oder ein Geheimbund. Ein Haufen Verweise auf Bands, von denen wir noch nie gehört haben, wie ein privater Code. Es kommt nur zur Sprache, wenn ihr unter euch seid, aber… so entsteht Verbundenheit, richtig? Ihr müsst uns auch einweihen.”


Ein paar Jahre später bittet die anarchistische Student*innengruppe an der örtlichen Universität uns ältere Ansässige, einen Vortrag zu halten. Ich gehe davon aus sie wollen dass wir über “security culture” oder Konsens-Prozesse oder den Spanischen Bürgerkrieg sprechen. Tatsächlich wollen sie, dass wir ihnen etwas über Punk erzählen.

Roxy und ich beschlagnahmen einen Ganzkörperspiegel aus der verlassenen Glasfabrik neben meinem Haus und bringen ihn ins Klassenzimmer. Wir stellen ihn vor dem Publikum auf. Ich fange an, in einem Hemd mit geknöpftem Kragen einen langweiligen Vortrag zu halten, wie ein Professor. Während sie mich anstarren, schlägt Roxy mit einem Baseballschläger auf den Spiegel ein, so dass überall die Scherben herumliegen als der D-Beat einsetzt.

“Warum sollten wir auf die Idee kommen sowas zu tun?”, fragt sie sie anschließend, und in ihren Antworten formulieren die Teilnehmenden selber alles was sie darüber wissen müssen was Punk ist. Welche Vorstellung du auch immer von dir selbst und der Welt hast, in der du dich siehst, zerschlage sie – was auch immer du glaubst was Unglück bringt (Scherben, eine schwarze Katze streicheln etc.), tu es jetzt – und beginne von diesem Punkt aus, dich und die Welt neu zu gestalten.



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